Wegweiser Magazine interview
Oktober, 2001
Was diese Zeit der Verwundung offenbart, ist die Einsicht, dass jeder einzelne von uns mit allen Wesen dieser Erde verbunden ist. Indem der Schleier von Sicherheit und Isolation zerrissen wurde, ist die kollektive Psyche zerbrochen. Darin liegt eine große Chance, sich auf eine neue Art dem Leben ohne Kompromisse zu verpflichten.
Mitgefühl für die, die sterben mussten, kann uns zu einer tieferen Bereitwilligkeit verhelfen, das Leiden in der Welt zu beenden.
Wenn wir in dieser Tragödie die Herausforderung annehmen, aufzuwachen und die Ignoranz dort, wo wir sind, zu beenden, dann sind vielleicht die, die jetzt tot sind, nicht umsonst gestorben.
Eli Jaxon-Bear
15 September 2001
Obwohl ich jetzt in Kalifornien lebe, bin ich in New York aufgewachsen, und ich zähle zu den New Yorkern der dritten Generation.
Ich war einer der Passagiere auf dem ersten Flug, der nach dem Anschlag vom 11. September eine Landeerlaubnis für New York erhielt. Aus Sicherheitsgründen waren die Flüge vor und nach dem unseren an diesem Tag gestrichen worden. Wir hatten Glück und kamen durch.
Bei unserem Anflug auf den Kennedy Flughafen konnte ich das Feuer und die riesige Rauchwolke sehen, die sich über Manhatten ausgebreitet hatte. Doch zwischen mir und dem Geschehen war immer noch ein Fenster und obwohl es ein Schock war, gab es dennoch eine gewisse Distanz.
Das Flugzeug landete, wir waren die einzigen Passagiere in der Abfertigungshalle unserer Fluggesellschaft. Dies war ein tieferer Schock für das System. Es schien, als wären die düsteren Zukunftsvisionen der Science Fiction Filme gegenwärtig, jetzt und hier. Lediglich bewaffnete Männer in Uniform und ein paar Passagiere in einer verlassenen Abfertigungshalle. Während wir in unheimlicher Stille zur Gepäckausgabe gingen, konnte ich den Widerhall meiner eigenen Schritte auf dem Fußboden hören.
Aber erst, als der Geruch einsetzte, geschah es. Erst durch den Geruch von verbranntem Kunststoff, Gummi und menschlichem Fleisch traf das ganze Ausmaß in seiner Unmittelbarkeit bis ins tiefste Innere. Als ich die Bilder im Fernsehen sah, weinte ich. Ich weinte, als der Bürgermeister den Tod ganzer Brigaden von Feuerwehrleuten bekannt gab. Doch als mir der Rauch in die Nase stieg und ich ihn schmeckte, wurde eine tiefere Ebene getroffen.
Zum ersten Mal in meinem Leben war es in den Straßen von Manhatten still. Kein Hupen von geschäftigen Taxis und Lastwagen. Die Menschen auf den Straßen waren offen. Fremde redeten miteinander und halfen sich gegenseitig. Es war nicht das normale Leben.
Mit diesem Angriff war dem gesellschaftlichen Gefüge eine psychische Wunde geschlagen worden und die Trance von Isolation und Sicherheit wurde zerrissen. In dieser Verwundung liegt die Möglichkeit. Indem dieses „normale Leben” plötzlich aufhört, liegt darin die Öffnung zum Unbekannten. Natürlich werden der egobezogene Mind und auch die Regierung, die ja Projektion des egobezogenen Mind ist, ihrer Tendenz gemäß alles tun, um das Loch wieder zu schließen und zum „Normalen ” zurückzukehren, um das klaffende drohende Schwarze Loch, das sich aufgetan hat, wieder zu vergessen. Der Präsident drängt alle Amerikaner, sich wieder dem Einkaufen zuzuwenden, so wie Schafe wieder auf die Weide gehen.
Als junger Mann war ich bei der Revolution der Sechziger Jahre in unserem Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus und Kapitalismus an vorderster Stelle. Ich wollte das System stürzen. Wir gingen auf die Straßen und skandierten „bringt den Krieg nach Hause!” Jetzt ist er angekommen.
So traurig es ist, ich habe eingesehen, dass alle Revolutionen trotz der besten Absichten zum Scheitern verurteilt sind. Die amerikanische, die französische, die russische, die chinesische, die kubanische, um nur einige zu nennen, wurden alle um der menschlichen Würde willen gekämpft, für Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit; für das Recht auf das eigene Glück; damit Hunger und Leiden abgeschafft würden. Man kann darüber streiten, inwieweit jede dieser Revolutionen in bezug auf Vorausgegangenes Besserungen nach sich zog, letztendlich aber sind sie alle fehlgeschlagen.
Alle Revolutionen mußten fehlschlagen, weil die Menschen nicht erwacht waren. Die meisten der Revolutionäre waren schließlich doch nur in ihr eigenes Selbstinteresse verstrickt. Bewusstsein, gegenseitige Fürsorge, Selbstlosigkeit, wahrhaftige Liebe lassen sich nicht per Mandat verfügen, sie können nicht erzwungen werden noch kann man sie herstellen, indem man die Arbeitsverhältnisse ändert.
Nun müssen wir mit Grauen sehen, wie zuerst in New York und jetzt in Afghanistan unschuldiges Leben zerstört wird. Wenn es nahe ist, wie in New York, dann fühlen wir den Schrecken und den Schmerz. Ist es jemand Unschuldiges in Afghanistan, wird es vielleicht lediglich zu einem „Kollateralschaden”, wie es militärisch heißt, mithin zur Nebensache.
Es gibt noch einen anderen Weg. Indem der Schleier der Illusion zerreißt, besteht die Möglichkeit, den Hass in sich selbst zu entdecken und den Krieg in dir selber zu beenden. Hierin liegt eine große Gelegenheit: nicht zum „normalen Leben” zurückzukehren, sondern diese Möglichkeit zu nutzen, um tief nach innen einzutauchen und die egobezogene Identifikation und die vermeintliche Trennung als unecht zu entlarven und die Wahrheit des Seins zu entdecken.
Wir können sehen, dass sich beide Seiten im Recht wähnen. Beide Seiten führen einen Kreuzzug. Kreuzzüge sind eine Seuche, die mit der Verbreitung von Religionen einhergeht. Davon scheint keine Religion ausgenommen zu sein. Buddhisten töten Hindus in Sri Lanka, während Hindus in Kashmir Moslems töten. Juden töten Moslems in Palästina, während Moslems Christen töten und Juden. Und natürlich haben Christen zu bestimmten Zeiten immer wieder – unterschiedslos – andere getötet.
Wenn wir auf die biblische Idee von Gott schauen, finden wir die Projektion eines primitiven Geistes, der versucht, die unerklärliche Unermesslichkeit des Allumfassenden zu erklären. Gott, die allumfassende Totalität der Existenz, wird zur Idee des „einen Gottes”, und er gehört mir. Zuerst haben die Hebräer ihren „einen Gott”, und dieser „sagt” ihnen, alles zu töten, was auf ihrem Weg ins Heilige Land im (eigenen) Weg ist, denn „ihr seid mein auserwähltes Volk”. Darüber sind nun andere sehr verstimmt – bis Jesus erscheint; und nun können alle Heiden, von den Römern bis zu den germanischen Horden, von sich sagen, es gebe nur einen Gott und er ist für meine Sünden gestorben und er sagt, ich solle alle Ungläubigen töten.
Das wiederum muss nun die Araber sehr aufgebracht haben, bis Mohammed erklärt, dass es in der Abstammungslinie von Abraham, Moses und Jesus nun Mohammed gebe, zu dem Gott spricht und der ihm sagt, es gibt nur einen Gott, und er gehört uns!
Dieser primitive Glaube an einen vermenschlichten Gott ist eine Form von Anbetungskult. Es ist die Wurzel enormen Leidens in der Welt. Zur Zeit werden bei uns Menschen, die von sich behaupten, Gott spreche zu ihnen, indem er sie von paranoiden Verschwörungen in Kenntnis setzt und ihnen auch häufig gebietet, von Kirchtürmen zu schießen, mit Medikamenten behandelt und medizinisch versorgt.
Erst, als ich nach Europa kam, hörte ich vom Wahnsinn der anderen Seite: der halbfertige Lehrer der „Nicht-Dualität”, der die Frage stellt: „Warum denn weinen, da doch niemand stirbt?” Diese Ignoranz, die als Erleuchtung daherkommt, ist ein weiterer spiritueller Glaube, der Leiden erzeugt, und das im Namen von „es gibt ja niemanden, der leidet”. Ich möchte jeden bitten, der dies lehrt, für einen Moment in Erwägung zu ziehen, ob hier nicht etwas vermieden wird, ein tiefer Schmerz womöglich, oder ein Ausagieren, von dem man sich mit Hilfe einer spirituellen Idee dissoziiert.
Wahren Lehrern bricht es das Herz, all das Leiden in der Welt. Der Guru meines Gurus, Ramana Maharshi, sandte meinen Lehrer Papaji zurück in den Punjab, um seine Familie vor den Massakern zu retten, die dort nach der Teilung des hinduistischen Indiens im moslemischen Pakistan bevorstanden.
Wenn also die Idee von Gott ein Mythos und die Idee von „Nicht-Dualität” ein Ausweichen in spirituelle Trance ist, was ist dann die Alternative? Wenn du gewillt bist, dein Leben als egobezogene Identität hinzugeben, damit das Leiden aufhören kann, dann ist das ein Anfang. Darin findet kein Kreuzzug statt, kein Missionieren, es gibt niemanden außerhalb deiner selbst, dem zu predigen oder der zu belehren wäre, nur dein eigener Mind, der untersucht und hinterfragt wird.
Was aufgedeckt wird, sind der Schrecken und die Wut, die allem Unrecht und Übel zugrunde liegen. Was aufgedeckt wird, ist die Ignoranz, die die Wurzel allen Leidens ist. Es fällt nicht schwer, die Ignoranz der amerikanischen Regierung zu sehen und das Leiden, das dadurch hervorgebracht wird, es fällt nicht schwer, die Ignoranz von bin Laden zu sehen und das Leiden, das daraus entsteht. Fang da an, wo du bist. Sei du ein Leuchtfeuer von stiller Liebe und strahl es aus, in Frieden. Andere werden es auffangen, und einer nach dem anderen wird die Welt erwachen.
Jemand hat mir auch erzählt, dass ihr „nicht-dualistischer” Lehrer ihnen sagte, man solle beim Anschauen der Schreckensbilder im Fernsehen keine Präferenzen haben. Das ist mehr desselben halbgaren Wahnsinns. Hättest du keine Präferenzen hinsichtlich dessen, ob die Taliban in Deutschland regierten? Dieser Artikel, dieses Magazin und ein Großteil deines Lebens wären illegal.
Du wärst gezwungen zu kollaborieren oder in den Untergrund zu gehen. Kannst du wirklich behaupten, du hättest keine Vorlieben? Nicht-Dualität ist Unterscheidungen gegenüber nicht blind. Tatsächlich werden die subtilen Unterschiede, die in einem stillen Mind zutage treten, noch viel klarer erkannt. Die Welt wird nicht zu einem Mus von Einheitsbrei. Die großen und die kleinen, subtilen Unterschiede erscheinen mit größerer Klarheit, wenn der Mind zur Ruhe kommt.
Alles hat seinen Ursprung in einem stillen Mind und ein stiller Mind ist der heilende Nektar. Wenn du dich selbst als Stille erkennst, dann bist du natürlicherweise im Dienst, du bist natürlicherweise offen, natürlicherweise bereitwillig, ohne dass du von Glauben oder spirituellen Konzepten geleitet wirst. Wenn du feststellst, dass du dich von einem Konzept leiten lässt, sei es die Idee von Gott oder die Idee von Einheit, dann lebst du immer noch in Ideen und du verpasst sowohl die Wirklichkeit als auch die Welt.
Warum nicht dankbar sein für die Freiheit, die uns das Leben in einer Gesellschaft wie der unseren gewährt? Das wollen wir nicht verleugnen, und genausowenig wollen wir uns damit auf Kosten anderer zufriedengeben.
Lasst uns einer um den anderen die Möglichkeit eines stillen Mind und eines offenen Herzens umarmen, das Leiden in der Welt ertragen und ihr zum Frieden verhelfen.